125 Jahre Gedächtniskirche Berlin

"Wie der Kaiserin-Augusta-Platz ohne Gedächtniskirche aussehen würde"

Die fotografische Sammlung Ullstein, seit Ende des 19. Jahrhunderts erwachsen aus der redaktionellen Arbeit in dem Berliner Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Ullstein, vermittelt in allen Themengebieten der Pressefotografie ein umfassendes Bild des menschlichen Lebens und der Zeitgeschichte. Davon sollte und konnte das für Berlin zentrale Bildmotiv der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nicht ausgenommen bleiben. Mit dem Bauabschluss im Jahr 1895 werden die Kirche und ihre Geschichte Bildthema für renommierte Fotografen wie Waldemar Titzenthaler (1869-1937) und Hugo Rudolphy (1855-1919). Nur wenige Jahre später, in einer Ausgabe der auflagenstarken Berliner Illustrirten Zeitung von 1905, bricht sich die Moderne in Zukunftsgedanken Bahn, wie es für die Übereinkunft von Fotografen und Textautoren bei Ullstein wegweisend bleiben wird. Das übergeordnete Thema ist der Aufbruch Berlins und der Rang einer Metropole: zu dieser Zeit ein entscheidendes Thema, denn es geht um die zunehmende Wirtschaftskraft, Bevölkerungsdichte, den globalen Wettbewerb und auch die Baugeschichte der Stadt. „Was den Berlinern noch fehlt – Nachahmenswertes aus anderen Weltstädten“ titelt die wöchentlich erscheinende Berliner Illustrirte Zeitung und stellt in einer der Bildunterschriften die Frage: „Warum gibt es in Berlin zum Schutz gegen die Unbilden der Witterung keine Wartehäuschen an den wichtigsten Haltestellen der elektrischen Straßenbahn, wie dieses, das wir vor der Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche errichtet haben?“ In dem unscheinbaren Pronomen „wir“ steckt nicht nur das Selbstbewusstsein der Publizierenden, sondern auch die Anwendung redaktionell übergreifender Möglichkeiten. Die Fotomontage erlaubt das fiktive Errichten eines – noch – nicht existierenden Architekturdetails: einer überdachten Straßenbahn-Haltestelle, stadtzentral und in unmittelbarer Nachbarschaft der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Nur einer von mehreren Mängeln der wachsenden Großstadt Berlin, der hier im Vergleich zu Paris, London, Wien oder New York diagnostiziert wird. Mit fotografischen Mitteln gelingt es nicht nur, einen visuellen Überraschungseffekt zu erzielen, sondern auch die Dringlichkeit einer Frage zu betonen. Und in den Zeitungen und Zeitschriften erobert auf diese Weise eine moderne Visualisierung von Fortschritt und von Zukunftsidee ihren Platz. Neben der bereits selbstverständlichen Vermittlung von Neuigkeiten und Besonderheiten durch die Fotografie, neben der Wirkung von Kommentaren und der Ausübung von Kritik. Die Voraussetzungen hierfür hat der Verlag selbst geschaffen: die frühe und enge Zusammenarbeit mit ausgewählten Fotografen, technische Bedingungen und auch die Platzierung von Bild und Text im Layout so unterschiedlicher Publikationen wie die Berliner Illustrirte Zeitung, Uhu, Grüne Post, Tempo, Der Querschnitt, Die Dame oder Koralle.

Im folgenden Jahrzehnt, den unruhigen, auch aufreibenden und von starken Widersprüchen geprägten 1920er Jahren, gewinnt die Fotografie weiterhin an Wirkung und prägt das Erscheinungsbild der Publikationen. Kurt Szafranski (1890-1964) als künstlerischer Leiter bei Ullstein und Geschäftsführer der Berliner Illustrirten Zeitung fördert diese Entwicklung. Der Verlag unterhält ein fotografisches Atelier, beschäftigt Bildautoren, erteilt umfangreiche und weltumspannende Aufträge für Fotoserien. Dazu gehört, dass wiederum eine Reihe entscheidender Fotografen das Bildmotiv der Gedächtniskirche zu verschiedenen Gelegenheiten und in verschiedenen Jahren aufgreift und neu erarbeitet. So entstehen die Aufnahmen der Kirche im Westen Berlins von Erich Salomon (1886-1944), Otto Umbehr (1902-1980), John Graudenz (1884-1942), Alex Stöcker (1896-1962) und Sasha Stone (1895-1940). Zu ihren Themen gehören nicht nur die Architekturfotografie und die Ereignisse im direkten Umfeld des Bauwerks, sondern auch die Möglichkeiten neuer Perspektiven und Aussagen. Kein geringerer als Otto Umbehr (Umbo) bereichert mit seiner Nachtaufnahme der Gedächtniskirche einen redaktionellen Beitrag von 1928 unter der Überschrift „Berlins westliches Zentrum bei Nacht“: die Ullstein Zeitschrift Uhu widmet dem Thema die Betrachtung ganzseitig publizierter Fotografien. Die pulsierende Großstadt, das nächtliche und andersartige Leben spiegeln sich in diesen Bildern wider. Gleichzeitig feiert die Publikation den Effekt der Fotografie Umbehrs: „Die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche fängt den Widerschein der Lichtreklamen auf wie ein einziger Reflektor“.

Das Bewusstsein für die Relevanz zeitgenössischer Fotografen ist dem stetig wachsenden Zeitungs- und Zeitschriftenverlag Ullstein nicht nur von Anfang an in das Stammbuch geschrieben. Es wird auch an entscheidenden Stellen formuliert, so im Uhu von 1929, der die Repräsentanten der „neuen Künstler-Gilde“ benennt. Neben Hoppé, Munkacsy, Abbé, Renger-Patzsch, Kertész, Salomon und Moholy-Nagy wird auch der Fotograf Sasha Stone vorgestellt. Zu seinem Repertoire gehören herausragende Berlin-Aufnahmen – unter ihnen das Bildmotiv der Gedächtniskirche –, die 1929 von dem Architekten Adolf Behne in dem Band „Berlin in Bildern“ herausgegeben werden. Stones Experimentierfreude hingegen sorgte schon drei Jahre zuvor im Uhu für einen außergewöhnlichen redaktionellen Beitrag. Der Text des Redakteurs und Kunstkritikers Karl Scheffler zum Thema „Berlin in 50 Jahren – Perspektiven einer Weltstadt“ behandelt die in seinen Augen notwendige Umgestaltung und Ausdehnung der Stadt. Er lenkt das Leserinteresse auf zwei unterschiedliche Aufnahmen, übersichtlich angelegt auf einer Doppelseite. Einerseits: „Die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, ein markantes, aber verkehrshemmendes Baudenkmal des westlichen Berlins“. Andererseits: „Der von unserem Photographen freigelegte Verkehrsknotenpunkt: Die fortretuschierte Kirche auf dem Kaiserin-Augusta-Platz, dem Herzen der neu entstehenden westlichen City von Berlin“. Erneut dient die Retusche als Mittel der Wahl, um zu verdeutlichen, zu provozieren, um eine Zukunftslösung vorstellbar und greifbar zu machen: das Zentrum Berlins ohne die Gedächtniskirche. In der Zusammenarbeit von Text- und Bildautor wird explizit die Leistung des Fotografen hervorgehoben, der im Ergebnis eine komplette Neugestaltung des Platzes vornimmt. Der vehemente Einschnitt und die Veränderung nehmen hier sehr viel konkretere Form an als es der Text nahelegt oder fordert. Denn obwohl Scheffler die bleibende Bedeutung der City hervorhebt, formuliert er seine Ideen der Umgestaltung allgemein: „Unvermeidlich sind einige der längst geplanten Straßendurchbrüche, andere, radikalere, werden folgen müssen.“ Auch in mehreren Buchpublikationen erläutert Scheffler seine Überlegungen und streitbaren Kunstbetrachtungen, die ihm über lange Zeit ein aufmerksames und breites Publikum sichern. Eine seiner grundlegenden Überzeugungen findet sich auch in diesem Text im Uhu von 1926: „Berlin wird in jeder Beziehung für Deutschland um so wichtiger werden, je mehr sich politisch und wirtschaftlich ein Unionismus durchsetzt und je mehr das zur Tat wird, was man mit dem Wort ‚die Vereinigten Staaten von Europa‘ bezeichnet.“ Der Zeitschriftenbeitrag des Uhu in seiner komponierten Zusammenstellung von Texten und Bildern bietet an einer Stelle die gelungene Verflechtung zweier Autoren: Karl Scheffler und Sasha Stone, die sich kaum näher sein könnten als in diesem Versuch der Moderne und in dieser Edition jeweils eines ihrer Werke der Zwanziger Jahre. Bei Ullstein in Berlin.

Dr. Katrin Bomhoff, ullstein bild collection, Axel Springer Syndication GmbH

Der Text ist Teil der Festschrift zum Jubiläum der Kirche am 01. September 2020.

Ein umfangreiches Dossier finden Sie bei www.ullsteinbild.de

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