Perspektiven einer Sammlung

Auftritt für die Fotografie

Interview mit Theresia Ziehe, Kuratorin für Fotografie, Jüdisches Museum Berlin

_______________________________________________________________

Frau Ziehe, Sie kuratierten jüngst die Ausstellung Deutsche Juden heute mit Fotografien von Leonard Freed (1929-2006), Magnum Photos. Der Anlass war eine durch das Museum erworbene Fotoserie Freeds, die das tägliche Leben deutscher Juden Anfang der 1960er Jahre in Westdeutschland thematisiert und die in diesem Jahr erstmalig komplett gezeigt wird. Bilder voller Szenerien, die keinen Augenblick lang darauf verzichten, über sich hinauszuweisen: Welche Vergangenheit, welche Zukunft wird hier verhandelt, wie begegnet ein Mitglied der jüdischen Gemeinde in Mainz dem Polizeichef der Stadt 1961, wie orientieren sich Jugendliche und Kinder in dieser neuen Zeit, was beschäftigt die porträtierten Fritz Kortner, Ernst Deutsch, Ludwig Marcuse, Therese Giehse oder Willy Haas in den Jahren des Neuanfangs?

Aufgrund von einzelnen Abzügen in der Sammlung des Jüdischen Museums Berlin nahm ich schon vor Jahren Kontakt mit Brigitte Freed, der Witwe des Fotografen Leonard Freed auf. 2006 und 2008 konnte ich dann die gesamte Serie, bestehend aus 52 Motiven, die alle in der Publikation „Deutsche Juden heute“ 1965 erschienen waren, erwerben. Seitdem möchte ich die Serie ausstellen und ich habe mich sehr gefreut, dass wir von November 2024 bis Ende April 2025 endlich die Gelegenheit dazu hatten. Einzelne Motive waren bereits in verschiedenen Präsentationen zu sehen, aber nun konnten wir zum ersten Mal die komplette Serie ausstellen. 

Auch wenn wir im Vorfeld schon viele Informationen zur Serie zusammengetragen hatten, erweiterte sich unser Wissen während der Laufzeit stetig. So ergaben sich Kontakte zu Abgebildeten, die bis dahin unbekannt geblieben waren. Ihre verschiedenen Lebenswege und Erfahrungen verdeutlichen die Situation von Jüdinnen und Juden in Deutschland Anfang der 1960er Jahre aus verschiedenen Perspektiven. Die unterschiedlichen und komplexen Gründe, warum sie sich damals, weniger als 20 Jahre nach dem Ende der Schoa, in Deutschland aufhielten, werden greifbar.

Zu welchen Ergebnissen sind Sie im Laufe der Ausstellungsvorbereitung gekommen?

Leonard Freed nimmt in der Serie „Deutsche Juden heute“ die jüdische Gemeinschaft in Westdeutschland in den Blick. Er fotografiert in mehreren jüdischen Gemeinden, vor allem in den Gegenden um Frankfurt und Düsseldorf. In der Ausstellung präsentierten wir die 52 Motive in der Abfolge des Buches, die Freed sicherlich bewusst gewählt hatte. Den Auftakt bilden zwei Motive, die sowohl den großen Bruch durch die Schoa, als auch die lange Tradition des Judentums in Deutschland verdeutlichen: Marmorbüsten an einer Mauer des alten jüdischen Friedhofs in Frankfurt am Main - wen sie darstellen, ist nicht bekannt, und eine Aufnahme des jüdischen Friedhofs in Worms, einer der ältesten Europas. Ebenfalls am Anfang, im ersten Bildteil, finden sich drei Motive mit direktem Bezug zu Nazi-Verbrechen: Das erste zeigt den Unterarm einer Frau mit einer eintätowierten Nummer des Konzentrationslagers Auschwitz, das zweite ein Gebetbuch mit eigelegten Fotografien ermordeter Familienangehöriger, das dritte Holzgitter über den Blutgräben im ehemaligen KZ Dachau. Der zweite Bildteil widmet sich religiösen Aspekten wie Aufnahmen aus Synagogen oder von jüdischen Festen. Es folgen Motive zu unterschiedlichen Berufen, sowie Aufnahmen bekannter Persönlichkeiten. Zum Schluss richtet Freed seinen Fokus auf junge Menschen, Kinder und Jugendliche. Dieser Abschluss mit größtenteils offenen und freundlichen Bildern veranschaulicht den optimistischen Blick des Fotografen.

Leonard Freed zeichnet sowohl skeptische als auch hoffnungsvolle Bilder mit seiner Kamera. Seine Bilder zeugen von Empathie, Sensibilität und Ernsthaftigkeit, aber kennen auch humorvolle Details. Er möchte mit seinen Fotografien der Unwissenheit der Deutschen über die unsichtbare jüdische Minorität in ihrem Land entgegenwirken. Gleichzeitig begibt er sich auf eine Spurensuche seines eigenen Jüdischseins. 

Durch die intensive Beschäftigung mit der Serie Freeds wurde für mich die Bedeutung des Werks für die Sammlung abermals deutlich. Leonard Freed beschäftigte sich sehr intensiv mit der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland, das Ergebnis ist ein Langzeitprojekt, das 1961 mit den ersten Aufnahmen begann und 1965 in der bereits erwähnten Publikation mündete. Es gibt nicht viele jüdische Fotografinnen oder Fotografen, die sich so ausführlich und so vielschichtig diesem Thema gewidmet haben. Auch wenn die einzelnen Motive aus ihrer Zeit stammen, entwickeln sie zusammen eine Art Zeitlosigkeit, die mich immer wieder aufs Neue fasziniert. 

Durch die vergleichende Betrachtung früherer Aufnahmen aus der fotografischen Sammlung Ullstein zeigen sich deutliche Unterschiede: Namhafte Bildautoren porträtierten die oben genannten Schauspieler Fritz Kortner und Ernst Deutsch vor Leonard Freed, in den 1910er und 1920er Jahren, sowohl privat als auch in Rolle. Zu ihnen gehören Zander & Labisch, Frieda Riess, Elli Marcus, Lili Baruch, Sasha Stone, Martin Badekow, Atelier Binder und Theodor Fanta. Natürlich unterscheiden sie sich grundsätzlich wegen des zeitlichen Abstands und der technischen Voraussetzungen. Denn für die Arbeiten der Nachkriegszeit gelten neue Blickwinkel, Bildausschnitte und neue Gesten der Hauptfiguren, die Werke kennzeichnet ein anderer Duktus. Doch die früheren Aufnahmen der Ullstein-Fotografen verdeutlichen nicht nur den zeitlichen Abstand, sondern auch das vormalige Leben einer ganzen Generation. Erfolgreiche Schauspieler, Wissenschaftler, Literaten fanden ihren Wirkungskreis und das Interesse des Publikums. Diese Aufnahmen entstanden überwiegend in Berlin, hier agierte der Zeitschriften- und Zeitungsverlag Ullstein, publizierte und prägte Fotografie über Jahrzehnte hinweg in den unterschiedlichen Veröffentlichungen des Hauses. – Und es lohnt ein weiterer Vergleich mit Bildern der fotografischen Sammlung bei ullstein bild: 1967 porträtierte Jochen Blume das Leben der jüdischen Gemeinde in München. Tradition, Feier, Ausbildung, Religion, die festliche Ausgelassenheit jüngerer Menschen rücken hier in den Mittelpunkt. Ein ähnlicher Impetus, der diesen Bildern zugrunde liegt und das Alltagsleben deutscher Juden beschreibt.

Leonard Freed beschreibt sich nicht als Journalisten, der an eindeutigen Fakten interessiert ist, sondern als Autor und vergleicht seine Fotografien mit Gedichten, deren Bedeutung meist vielschichtig interpretiert werden kann. „Was man auf den Bildern sieht, ist das, was ich zeigen wollte“ so ein Zitat von ihm. Es geht ihm nicht um ein authentisches Abbild der Wirklichkeit, sondern um seinen subjektiven Blick. 

1929 in Brooklyn, New York, geboren und aufgewachsen, bereist er schon früh Europa und später Orte auf der ganzen Welt. Seine Kamera wird zur engen Begleiterin, die ihm hilft, das Erlebte zu verarbeiten und die Welt besser zu verstehen. Jüdinnen und Juden nimmt er immer wieder in den Blick, unter anderem fotografiert er die jüdische Gemeinschaft in Amsterdam bevor er sich der Situation in Deutschland widmet. Als US-amerikanischer Fotograf schaut er mit einer gewissen Distanz auf die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Diese Perspektive von außen schärft seinen Blick und seine Beobachtungsgabe.

Leonard Freed versucht aber auch sein eigenes Jüdischsein mit seiner Kamera zu ergründen. Über das Fotografieren möchte er seine Beziehung zum Judentum verstehen und analysieren. Diese intensive Beschäftigung findet ihren Widerhall in den Fotografien und unterschiedet seine Aufnahmen von anderen Bildautoren. Seine persönliche Auseinandersetzung ist zu spüren. 

Auch Freeds Porträts bekannter Persönlichkeiten sind keine klassischen Porträts. Auch hier gibt er Situationen und Stimmungen wieder. So zum Beispiel eine Aufnahme der Schauspielerin Therese Giehse 1961 in München: Die linke Bildhälfte ist von einem Tisch im Hintergrund eingenommen und zeigt darauf eine Rose in einer Glasvase, einen Aschenbecher und eine weiße Tasse auf einer Art Dokumentenmappe. Therese Giehse ist in der rechten Bildhälfte zu sehen, im Brustbild, in dunkler Kleidung. Ihr Blick weist nach rechts aus dem Bild hinaus. Ihr Porträt erscheint beiläufig, ihr Blick schweift ab, trotzdem ist ihre Mimik ausdrucksstark. Der Betrachter wird in die Situation hineingezogen und Fragen kommen auf wie: Welcher Moment ist hier abgebildet? Welche Stimmung wird wiedergegeben? Über was denkt die Abgebildete nach oder wo schaut sie hin? Viele Fragen, aber keine Antworten – genauso wie es Freed möchte, Perspektiven erweitern sich und klare Zuschreibungen werden unmöglich gemacht. 

In der Ankündigung Ihrer Leonard Freed-Ausstellung fällt ein wichtiges Wort: fragil. Gestern wie heute ein Charakteristikum jüdischen Lebens?

Anfang der 1960er Jahre war jüdisches Leben in Deutschland auf jeden Fall fragil. Es existierten nur wenige kleine Gemeinden, deren Existenz in- und außerhalb Deutschlands umstritten war. Insgesamt lebten um die 25.000 Jüdinnen und Juden in Westdeutschland. Ihre Anwesenheit im „Land der Täter“ war alles andere als selbstverständlich. Die meisten waren aus Mangel an Alternativen dort und saßen auf den oft zitierten „gepackten Koffern“. Auch außerhalb Deutschlands wurden sie mit Unverständnis beobachtet. Und die Mehrheitsgesellschaft war weiterhin durch Antisemitismus geprägt. 

Die Ausstellung hat Freeds Werk aber auch mit unserem Heute verbunden. Die Frage nach der Möglichkeit, als Jüdin oder Jude in Deutschland zu leben, ist weiterhin relevant und prägt eine Debatte, die bis heute andauert. Nicht zuletzt der Titel der Ausstellung und Serie „Deutsche Juden heute“ verdeutlicht eine andauernde Aktualität, auch wenn sich die Herausforderungen für die jüdische Gemeinschaft verändert haben. 

Uns ist jüdische Vielstimmigkeit wichtig. Gerade in unserer Zeit, in der Vorurteile und Stereotypen wieder stärker werden und Komplexitäten möglichst vereinfacht werden sollen, möchten wir eine Vielzahl jüdischer Perspektiven und Standpunkte sichtbar machen. Unsere Ausstellungen sind dabei, wie auch unser weiteres Programm, ein Begegnungsort, das zu Reflexion und konstruktiver Auseinandersetzung anregen möchte. Wir möchten Anknüpfungspunkte für relevante gesellschaftliche Fragestellungen unserer Gegenwart geben und so zum Nachdenken motivieren.

„Geschichten erzählen mit Objekten“ ist der Leitgedanke des Jüdischen Museums – mit welchen Fotografien werden Sie zukünftig Ausstellungsgeschichten erzählen?

In unseren Ausstellungen möchten wir die hauseigene Sammlung noch stärker präsentieren. In der Fotografischen Sammlung gibt es sehr heterogene Bestände. Nicht zuletzt in den sogenannten Familiensammlungen begegnen sich private, persönliche Aspekte mit generellen Aspekten der jeweiligen Zeitgeschichte. Hierzu zählen auch die zahlreichen Fotoalben, die oft unterschiedliche Autorenschaften, Perspektiven und Datierungen zusammenbringen. Diese Bestände noch sichtbarer zu machen, ist uns ein wichtiges Anliegen. Deshalb realisieren wir gerade ein großes Digitalisierungsprojekt.

In der Fotografischen Sammlung gibt es darüber hinaus aber auch Einzelbestände oder Serien, die sehr interessant sind. Meine Absicht ist es, die Fotografien weniger in Kategorien zu denken, sondern in ihren Bezügen herauszuarbeiten. Wichtig ist uns, dass wir unsere Bestände immer wieder aus unterschiedlichen Blickwinkeln von neuem betrachten und sie mit unseren aktuellen Fragestellungen verknüpfen, so dass ihre Relevanz verdeutlicht wird. Die Arbeit an den Beständen ist nie abgeschlossen, das kann manchmal herausfordernd sein, aber meist ist es sehr spannend und inspirierend! 

 

Vielen Dank, Frau Ziehe, für dieses Gespräch!

Fragen: Dr. Katrin Bomhoff, ullstein bild collection

Erstveröffentlichung am 05.09.2025.

In der Galerie sehen Sie eine Auswahl von Originalfotografien aus der ullstein bild collection.

Das Fotodossier zum Thema finden Sie bei ullstein bild.

Kontakt

Dr. Katrin
Bomhoff
Senior Manager Asset & Exhibition
+49 30 2591 73164
Foto (c): Theresia Ziehe
Theresia
Ziehe
Kuratorin für Fotografie | Jüdisches Museum Berlin