Wer ist Baron Mario von Bucovich?

Interview mit Professor Eckhardt Köhn Fotohistoriker und Literaturwissenschaftler

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Herr Köhn, bereits 2014 widmeten Sie eine Ausgabe Ihrer Zeitschrift Fotofalle/Edition Luchs dem Bildautor Mario von Bucovich (1884-1947) und stellten die berechtigte Frage: Wer war Baron Mario von Bucovich? In diesem Jahr sind Sie beratend tätig für die weltweit erste Retrospektive zu Bucovich in der Kunsthalle Mannheim. Ein langer, doch ganz sicher auch lohnenswerter Weg, wir sprachen von Zeit zu Zeit darüber.

Das ist richtig. Ein sehr langer, vor allem ein beschwerlicher Weg. Bucovich galt für Jahrzehnte als verschollen in Mexiko, selbst das Todesdatum war nicht bekannt. Dort zu recherchieren, erwies sich als äußerst schwierig. Doch am Ende wurde ich für die Mühe entschädigt, da ich durch glückliche Umstände Bucovichs Nachlass in Mexiko-City ermitteln und schließlich auch erwerben konnte. Wobei man sich unter seinem Nachlass nicht wie bei heutigen Fotografen ein wohl geordnetes Archiv vorstellen darf, sondern eine Ansammlung von Fotografien und Dokumenten ganz unterschiedlicher Art, die seit 1947 in einer feuchten Garage gelagert wurden und zum Teil entsprechend beschädigt sind. 

Sie haben immer auf bislang kaum oder gar nicht erforschte Bereiche und Aspekte hingewiesen. So gesehen ist der Fotograf für Sie ein „alter Bekannter“, ganz im Gegensatz zur breiten, interessierten Öffentlichkeit, die jetzt dank der Mannheimer Ausstellung für mehr als drei Monate die Gelegenheit zur umfassenden Begutachtung seines Werks bekommt. Welche Ansätze oder Schwerpunkte haben sich bewährt, welche Neuheiten gibt es?

Meine Darstellung in der Fotofalle beruhte auf eigenen Recherchen, die sich überwiegend auf seine Arbeit in den Berliner Jahren zwischen 1925 und 1930 bezog, also vor allem auf seine „Glamourfotografie“ und die beiden Metropolenfotobücher über Berlin und Paris. Mit dem Erwerb des Nachlasses konnte die Materialbasis erheblich erweitert werden, so dass es nun in Mannheim möglich ist, Leben und Werk von Bucovich umfassend darzustellen. Dazu gehört eine Reihe von neuen Schwerpunkten. Sie betreffen vor allem seine Arbeit in Spanien zwischen 1932 und 1934, wo er sich längere Zeit auf den Balearen aufgehalten hat. Er plante, ein Fotobuch über die Kultur von Ibiza zu erstellen. So entstanden ethnographisch sehr interessante Porträts der Inselbewohner, aber auch dokumentarische Aufnahmen der dortigen Architektur, da man in der funktionalen Bauweise der weißen Häuser eine „archaische Moderne“ zu entdecken glaubte. Bilder dieser Art fanden damals das Interesse der katalonischen Bildmagazine, die sich zu dieser Zeit um einen Anschluss an die moderne Bildsprache der westeuropäischen Gestaltungsavantgarde bemühten. Bei der gegenwärtigen kulturgeschichtlichen Rekonstruktion dieses Prozesses, der für die Ausbildung der katalonischen Identität von großer Bedeutung war, ist man auch auf Bucovich gestoßen. Das belegen einige neuere Artikel über ihn in der größten Zeitung von Barcelona La Vanguardia, wo man unser Mannheimer Projekt mit großem Interesse verfolgt.

Ein zweiter neuer Punkt betrifft Bucovichs Arbeit in den USA, wohin er 1936 ging. Dort wurden seine Werke nicht nur in zahlreichen Ausstellungen gezeigt, sondern er begann für große amerikanische Zeitungen fotojournalistisch zu arbeiten. Im September 1939 schickte ihn The Washington Evening Star nach Mexiko-City, um den früheren bolschewistischen Revolutionär Leo Trotzki zu fotografieren, der dort im Exil lebte. Für Bucovich, der den Auftrag annahm, eine weitreichende Entscheidung, denn er entschloss sich, in Mexiko zu bleiben.

Für den Ullstein-Verlag, dessen auflagenstarke Publikationen Mario von Bucovich zu Lebzeiten mit seinen Aufnahmen belieferte, spielen die Berliner Jahre eine besondere Rolle. Hier kommen mehrere Fäden zusammen: der Kontakt zu Schriftstellern, Redakteuren und Verlegern, der große Erfolg der Ullstein-Magazine, der Standort Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen sprechen von der intensiven Zusammenarbeit mit Ullsteins Die Dame, Der Querschnitt, Tempo, Uhu. Deshalb kann heute ullstein bild collection der Kunsthalle Mannheim entscheidende Leihgaben zur Verfügung stellen. Wie bewerten Sie diese Kooperation Ullsteins mit dem Fotografen?

Als Bucovich 1925 das renommierte Berliner Atelier von Karl Schenker übernahm, konnte er vermutlich auf zahlreiche Kontakte in der Medienszene zurückgreifen, die Schenker angebahnt hatte, wobei die zu den Bildredakteuren im Hause Ullstein sicher besonders wichtig waren. Dennoch ist es erstaunlich, dass es Bucovich, letztlich ein fotografischer Amateur, so schnell gelang, publizistisch an die Erfolge seines Vorgängers anzuknüpfen. Den Grund dafür wird man in Bucovichs Fähigkeit sehen müssen, den zu diesem Zeitpunkt im Bereich der Porträtfotografie noch vorherrschenden Stil einer gemäßigten, weichzeichnenden Kunstfotografie souverän zu beherrschen. Überhaupt lässt sich die These aufstellen, dass Bucovich neben Paul Wolff vermutlich derjenige Bildautor ist, der mit den meisten Aufnahmen in der illustrierten Presse der Weimarer Republik vertreten ist. Er kann als authentischer Repräsentant der wirklichen Bildkultur dieser Epoche angesehen werden, worüber die Überkanonisierung der Avantgardefotografie lange Zeit hinweggetäuscht hat.

Aus der Berliner Zeit stammt ein überliefertes Zitat von Bucovich: „Ich bin teuer, ich muss es sein. Denn ich arbeite mit Liebe und spare weder Zeit noch Material.“ Von dieser Erfolgsgeschichte sprechen sein Atelier, wichtige Ausstellungsbeteiligungen und auch der vielfach rezipierte Fotoband Berlin. Neben der Originalausgabe von 1928 finden sich drei Originalfotografien aus diesem Band bei ullstein bild. Was war entscheidend für diese Neuerungen und ihre Erfolge? 

Ende der 1920er Jahre entstand ein neuer Typus des Fotobuchs mit einer stark visualistischen Ausrichtung, bei der die Bilder nicht mehr nur als Illustration von Texten funktionierten. Im Geist des Urbanismus dieser Zeit wurden zahlreiche Fotobücher mit dem Anspruch veröffentlicht, die Physiognomie einer Großstadt zu erfassen, die sich eben nicht nur in ihren Sehenswürdigkeiten, sondern vor allem in ihrem Alltagsleben zu erkennen gibt. Dass Bucovich, der bislang fast nur als Atelierfotograf gearbeitet hatte, sozusagen auf die Straße ging und gleich Aufträge bekam, um für die populäre Reihe des Albertus Verlags Das Gesicht der Städte die beiden wichtigsten Metropolen dieser Zeit Berlin und Paris zu porträtieren, ist bemerkenswert. Die Bände selbst sind heterogen, typische Motive der Stadtarchitektur wechseln sich ab mit denen von alltäglichen Szenen des Straßenlebens, stilistisch folgen den eher impressionistisch, malerisch gestalteten Aufnahmen solche, die auf die Bildsprache des Neuen Sehens und ihren Sinn für Details verweisen. Die Einbeziehung von Sehenswürdigkeiten und die Mehrsprachigkeit der Bildunterschriften deuten auf den Markt und Touristen als Zielgruppe hin, während die Alltagsaufnahmen eher ein literarisches Interesse ansprechen, die Großstadt mittels der Fotografie neu zu sehen. Es gibt sicher eine thematische Korrespondenz zwischen Bucovichs Fotobuch und Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz. Dazu passt auch, dass der Schriftsteller das mittlerweile oft zitierte Vorwort zu Bucovichs Band geschrieben hat und mittlerweile kaum ein illustriertes Buch über das Berlin der Weimarer Republik erscheint, in dem nicht auf Bilder von Bucovich zurückgegriffen wird. Erwähnenswert am Rand ist auch, dass sich der Paris-Band sowohl in der Bibliothek von Sigmund Freud als auch in der von Walter Benjamin befand, der das Buch in einem Artikel sehr gelobt hat.

Sie schildern von Bucovich als „einen überaus reflektierten Bildautor“, in welcher Hinsicht prägt diese Eigenschaft seine Arbeiten?

Bucovich hat mehrfach über seine Arbeit geschrieben, sowohl über praktische Probleme seines Metiers als auch über die Gattung des Porträts, die er als höchste Form seines Faches ansah. Während viele seiner Kollegen, vor allem diejenigen, die sich zur Avantgarde zählten, sich eher als Techniker verstanden, hat Bucovich seine Position unmissverständlich formuliert: „Photographie ist eine Kunst“, was natürlich bedeutet, sich den damit verbundenen formalen Ansprüchen zu stellen. Das schließt nicht aus, aus Gründen der Existenzsicherung gelegentlich Zugeständnisse an den Markt zu machen. Bei Bucovich findet man sie vor allem in seinen Aufnahmen, die in Spanien und Mexiko zu Zwecken der entstehenden Tourismuswerbung entstanden sind. Letztlich aber galt für ihn nur eine einzige Überzeugung, die er in einem Brief vom 2. September 1945 ausgesprochen hat.  Es sei sein Vertrauen „in die Religion der Schönheit und der Perfektion“ gewesen, die ihn trotz aller Widrigkeiten motiviert habe, weiterzumachen..

Welche Bedeutung und welche Konsequenzen hatte die Zeit seiner Aufenthalte in New York, London, Paris, Spanien oder Mexico für Bucovich?

Ergänzend kommen noch Städte wie Wien und St. Petersburg hinzu. Aber was auf den ersten Blick wirkt wie das abenteuerliche Leben eines bewussten Nomaden der Fotografie, erweist sich bei genauerem Hinsehen doch als Folge von Ortswechseln, bei denen die Gründe unterschiedlich waren. Berufliche Perspektiven und persönliche Belange haben jeweils eine Rolle gespielt. Sicher gab es zahlreiche Erfolge, aber auch die von Bucovich selbst angesprochenen „Widrigkeiten“ sind nicht zu vernachlässigen oder philosophisch gesprochen, der stetige Kampf um Anerkennung. Es waren in psychologischer Hinsicht enorme Herausforderungen, sich den Bedingungen der jeweils neuen Umgebung anzupassen, Kontakte zu knüpfen sowie Arbeits- und Publikationsmöglichkeiten zu sondieren. Immer wieder neu anzufangen – dazu bedurfte es enormer unternehmerischer Energie, sozialer Kompetenz und eines ästhetischen Urteilsvermögens. Bucovich hat über alle diese Fähigkeiten zeit seines Lebens offensichtlich verfügt, eine erstaunliche Persönlichkeit, nicht nur in fotografischer Hinsicht. Es gibt also viel zu entdecken in der Mannheimer Ausstellung Berlin, Paris und anderswo.

 

Vielen Dank, Herr Köhn, für dieses Gespräch!

Fragen: Dr. Katrin Bomhoff, ullstein bild collection.

Erstveröffentlichung am 05. Juni 2025.

In der Galerie sehen Sie eine Auswahl der Originalfotografien aus der ullstein bild collection.

Das entsprechende Dossier Mario von Bucovich bei Ullstein finden Sie bei ullstein bild.

Kontakt

Dr. Katrin
Bomhoff
Senior Manager Asset & Exhibition
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